Cameron Tanner hat für nzdeutschland begonnen, seine persönliche deutsch-neuseeländisch-deutsche Geschichte aufzuschreiben. Noch niemand der Nachfahren hat das Lebensabenteuer des deutschen Goldsuchers Lorenz Riesterer aufgeschrieben, der Hotels und eine Familie in Neuseeland gründete: Ein Deutscher, der vor 150 Jahren in Neuseeland Maori lernte. Jetzt hat Cameron die Fortsetzung geschrieben: wie der Ururenkel eines deutschen Auswanderers rund 120 Jahre später selbst zum Auswanderer wurde – von Neuseeland nach Deutschland.
Mein Ururgroßvater Lorenz Riesterer lebte 47 Jahre in Neuseeland. Er starb in 1909 und die Familie lebte weiter verstreut über das Land.
Ab und zu begegnete ich Verwandten mit dem Namen Riesterer und irgendwann fiel mir auf: sie sind meist Lehrer oder Musiker. Meine Großmutter hatte eine bekannte Jazzband zusammen mit Cousinen in den 1920er Jahren in Auckland. Erstaunlicherweise blieb der Kontakt mit der Familie im Schwarzwald trotz der Weltkriege erhalten.
Im ersten Weltkrieg hielt man meinen Urgroßvater und seine Familie für Franzosen, weil er durch die strenge Erziehung seines Vaters genauso fließend Französisch wie Deutsch und Maori sprach. Zu dieser Zeit kannte sowieso niemand den Unterschied zwischen Französisch und Deutsch, denn Deutschland und Frankreich waren 12000 Meilen oder 20000 Kilometer weit weg. Nur der Direktor der Avondale Grundschule in Auckland erkannte den Unterschied und erklärte, dass die Schule mehr deutsche Familien bräuchte, um das intellektuelle und kulturelle Niveau zu heben. Dieser Lehrer hieß selbst Mr Von Weber, ließ aber kurze Zeit später das Von weg
Im 2. Weltkrieg kämpften mehrere Enkelsöhne von meinem deutschen Ururgroßvater als Neuseeländer für die Alliierten. Nach Kriegsende kamen dann Anfragen von den entfernten Verwandten in Deutschland für Lebensmittelpakete und die Möglichkeit zum Auswandern nach Neuseeland. In den 1960er Jahren begann die 3. und 4. Generation der Riesterer-Familie von Neuseeland nach Europa zu reisen und die Lust, auch nach Good Old Germany zu fahren, war größer als zuvor. Ich beschloss, mit 14 Deutsch zu lernen. Aber meine Eltern versuchten mich davon abzuhalten, weil ich es in Neuseeland sowieso nie benutzen würde. Meinten meine Eltern damals. Mit 20 Jahren lernte ich die Werken von dem berühmten Freiheitsphilosophen Rudolf Steiner kennen und der hat mich so begeistert, dass ich im Oktober 1982 von Auckland nach Nürnberg reiste, um dort Eurythmie zu studieren. In gleichen Monat wurde Helmut Kohlvon den Deutschen zum Kanzler gewählt.
Die Schule für Eurythmie in Nürnberg und die Waldorfschule wurden von der Kreutzerfamile, den Besitzern der Städtler Bleistiftfabrik, unterstützt. Das Ehepaar Kreutzer hatte Rudolf Steiner noch persönlich gekannt und hatte während der NS-Zeit eine verbotene Geheimblbliothek mit den original 350 Bänden Gesamtausgabe von Steiner, die sie hinter einer Wand in ihrem Haus vor der Vernichtung gerettet haben.
Zu meiner Zeit Anfang der 1980er Jahren kamen mehrere Kiwis nach Deutschland, um Waldorfpädagogik zu studieren und es entstand ein enger Kontakt zwischen uns. Wir kamen aus ganz Neuseeland und fingen ein interessantes Leben in Deutschland an. Nach meinem Diplom bekam ich, auf dem Bauernhof „Melchiors Grund“ in einer anthroposophisches Drogenrehabilitationsklinik zu arbeiten. Auf diesem biodynamischen Bauernhof im hessischen Vogelsberg lebte man sehr abgeschieden. Junkies aus der Frankfurter Bahnhofszene kehrten bei Bauernarbeit wieder in ein gesundes Leben zurück und wurden mit anthroposophischer Medizin behandelt … Mit großem Erfolg! Es gab nur ganz wenige Rückfälle. Meine Arbeit bestand darin, Schauspielstücke mit den Junkies einzustudieren. Der Direktor der Klinik Wolfgang Fricke, der schon mit 23 vom Hessischen Gesundheitsministerium in diese Position berufen wurde, arbeitete äußerst engagiert und hatte viele Kontakte zu Gemeinschaften und Organisationen im kommunistischen Osteuropa. Mit unserer Theatergruppe reisten wir zu Tourneen bis nach Georgien und führten Werke vom norwegischen Dramatiker Hendrik Ibsen zu sozialen Themen auf.
Meine Zeit als Kreativarbeiter in der Drogenrehabilitation auf einem hessischen Bauernhof war eine faszinierende Zeit, genauso wie die Tourneen durch das kommunistische Europa. In dieser Zeit besuchten mich einige Schulfreunde aus Neuseeland und blieben auf persönlichen Wunsch von Direktor Fricke sogar länger als ursprünglich geplant. Sie kamen auch mit auf Tournee und wohnten mit den Ex-Junkies gemeinsam in den Holzhäusern von Melchiors Grund.
In Stuttgart lernte ich bei einer Theateraufführung meine Frau kennen. Sie kam aus Kiel und schwärmte für Schleswig-Holstein. Also zogen wir zusammen nach Kiel und ich nahm eine Stelle an der Waldorfschule als Lehrer für Englisch und Eurythmie an. Kiel hat mich sofort an meine Heimatstadt Auckland erinnert. Beide Städte sind ein Mekka für Segler. In Kiel gab es zwar Les Mills Fitnessstudio. Aber als ich in Kiel beim Golds Studio vorbeiging, war ich total baff, als aus dem Aerobic-Saal plötzlich Haka-artige Schreie zu hören waren. Ich ging rein und war zum zweiten Mal baff, als ich Plakate von Les Mills Aerobic-Methode und Les Mills Schwiegertochter Jackie Mills in diesem Kieler Studio hängen sah.
Alle Neuseeländer kennen Les Mills, seine Schwiegertochter und das Aerobic Imperium in Auckland City. Les Mills war ein sehr erfolgreicher Olympiaathlet in Rom und München, später Bürgermeister von Auckland und Begründer von dem legendären Les Mills Gym und Aerobics-Style, z.B. Bodyattack und Bodybalance, und hat auch hunderte Lizenznehmer in Deutschland.
Genauso verblüffend war es für mich, dass ich in Kiel nur 10€ bezahlen musste, um KI-WI als Autokennzeichen zu bekommen. Das ist doch origineller als KI-FF , KI-LL , KI-SS oder KI-ND, finde ich als Kiwi jedenfalls. Die Ostsee hat eine große Faszination für mich, auch wenn es natürlich schwieriger als in Auckland ist, das ganze Jahr schwimmen zu gehen. Aber ich schaffe immerhin 8 Monate, jeden Morgen vor der Schule . Die Kieler Förde mit der HDW Werft bei Sonnenaufgang ist einfach ein eindrucksvoller Anblick und mit einem Sprung ins Wasser bin ich wach. Ein großer Vorteil, in Kiel abends schwimmen zu gehen: keine Haie!
Als Kiwi in Europe hat man viele Möglichkeiten zu reisen. Aber egal, wo man ist, werde ich immer dasselbe gefragt: warum wohnst Du in Deutschland, wenn Du Neuseelander bist?
Ja, gute Frage! Das frage ich mich heute noch manchmal. Mein Sohn Konstantin hat sich die Frage auch gestellt und ist mutig vor 4 Jahren – wie sein URururgroßvater rund 150 Jahre vor ihm, als Deutscher nach Neuseeland ausgewandert und macht gerade seinen Bachelor als Kameramann an der Auckland Unitéch.
Tatsache ist, in Neuseeland lässt es sich gut leben: Kiwis sind unternehmungslustig. Man kann sehr leicht ein Geschäft eröffnen dank der unkomplizierten Gesetzgebung und dem nicht existierenden Kündigungsschutz. Die Leute sind gastfreundschaftlich und die Natur ist bezaubernd. An abgelegenen Orten trifft man niemand und man kann überall leicht parken, ohne Parkgebühren. Viele Deutsche aber stellen sich, Neuseeland hätte ein heißes Klima, viele Mangogs, Kiwis und günstiges Lammfleisch. Tatsache aber ist, es gibt mittlerweile immer häufiger den sogenannten El Nina Sommer – also Sommer mit Regen in Neuseeland und Dürre in Australien. Außerdem: 19 % Mehrwertsteuer für Lebensmittel, keine Discountmärkte wie Aldi oder Lidl, neue gesetzliche Verbote für Gemüseanbau im eigenen Garten und Monsanto, genmanipuliertes Getreide. Neuseeland ist auch keine heile Welt, wenn man dort seinen Alltag lebt. Meinem Sohn fehlt schon lange gutes deutsches Brot und deshalb hat er – wie sein Urururgroßvater vor rund 140 Jahren angefangen, selbst Sauerteigbrot zu backen. Vielleicht gewinnt sein erste Heimat Deutschland doch wieder die Oberhand und er kehrt zurück nach Kiel, trotz der überteuerter Gebühren für einen Lastwagenführerschein, das Ehegattensplitting und der kurzen deutschen Sommer.